Do 23.06.11 21:45
Lebensgefahr nach Unfall - Wie die Bahn Retter im Regen stehen lässt
Nach dem schweren Bahnunfall bei Müllheim war die Rheintalstrecke tagelang blockiert. Wie KONTRASTE-Recherchen ergaben, ist der Ort nur knapp einer größeren Katastrophe entgangen. Die Rettungskräfte mussten stundenlang auf wichtige Informationen und die Unterstützung der Bahn warten.
„Güterzug mit giftigen Stoffen auf der Rheintal-Bahnstrecke entgleist." Eine dürre Meldung, ein paar Berichte - viel mehr gab dieser Vorfall vor ein paar Wochen in den Medien nicht her. Auch weil der Unfall gottseidank glimpflich ausging, verletzt wurde niemand. Uns hat diese Nachricht dennoch stutzig gemacht. Als mein Kollege Detlef Schwarzer die Chronik der Ereignisse rekonstruierte, zeigte sich, dass die Menschen am Unglücksort nur haarscharf einer Katastrophe entgangen sind.
20. Mai dieses Jahres. 13 Uhr. Ein Güterzug mit Gefahrgut entgleist aus noch ungeklärter Ursache kurz vor dem Bahnhof des südbadischen Städtchens Müllheim.
Brigitte Kleeb, Anwohnerin
„In dem Moment gab es einen richtigen Knall, einen Rumms. Es war richtig am Wackeln, also, das ganze Haus hat im Endeffekt gebebt. Da habe ich nur noch zu meiner Tochter gesagt: 'Darina komm mal schnell, da passiert etwas ganz schreckliches, guck Dir das mal an!'"
Barbara Gleichauf, Anwohnerin
„Überall war Rauch, überall waren Wolken, man wusste nicht: Brennt hier irgend etwas, sind da Menschen?"
Durcheinandergewirbelte Waggons wie bei einer Spielzeugeisenbahn, die Gleise verbogen, die Rheintaltrasse, die wohl meist befahrene Bahnstrecke Deutschlands blockiert. Großes Glück im Unglück: Der Unfall geschah 200 Meter vor den Bahnsteigen des Bahnhofs, der zu diesem Zeitpunkt voller Menschen war.
Es wird Großalarm gegeben, wenige Minuten später rückt der Gefahrgutzug der Freiwilligen Feuerwehr Müllheim aus. Das Bild, dass sich dem Kommandanten der Feuerwehr am Unglücksort bietet ist völlig chaotisch.
Michael Stöcklin, Freiwillige Feuerwehr Müllheim
„Wir haben hier mehrere Waggons liegen gehabt, teils durcheinander, der Strommast ist umgelegen, Flüssigkeit ist ausgelaufen, beziehungsweise Material auch verteilt am Boden gelegen. Wir wussten in dem Moment nicht, was für Material es ist."
Der Kommandant und seine Leute wollen sofort an die Arbeit, nach Verletzten suchen, die brisante Ladung bergen, von der sie nicht einmal wissen, worum es sich handelt. Ist sie giftig oder explosiv?
Doch dann Ernüchterung - sie sind zur Untätigkeit verurteilt. Denn: Die Waggons haben einen Oberleitungsmast gerammt. Die Stromleitung liegt auf den Gleisen, die ganze Anlage steht unter Strom. Die Feuerwehrmänner müssen warten, bis die Deutsche Bahn den Strom abstellt - zu groß ist die Gefahr von Stromschlägen. Feuerwehr und Polizei entscheiden deshalb, alle Anwohner der Unfallstelle zu evakuieren.
Barbara Gleichauf, Anwohnerin
„Wir sind alle ziemlich durcheinander gewesen, wussten nicht genau, was passiert ist. War Explosionsgefahr? Man wusste auch nichts vom Gefahrengut. Und dann ging alles relativ schnell. Hier wurde alles geräumt, der Nachbar mit dem Bauernhof, die Pferde, alles wurde geräumt."
Die Deutsche Bahn aber reagiert schleppend. Erst eine halbe Stunde später kommt ein sogenannter Notfallmanager der Bahn, der den Strom abstellen soll. So wie hier zu sehen bei einer Übung. Ist der Strom abgeschaltet, muss die Anlage geerdet, das heißt, der noch vorhandene Strom ins Erdreich abgeleitet werden.
Doch in Müllheim braucht die Deutsche Bahn mehr als eineinhalb Stunden, bis die Anlage stromfrei ist und die Einsatzkräfte endlich an die Waggons können. In Vollschutzanzügen, weil sie immer noch nicht wissen, wie giftig oder explosiv die Ladung wirklich ist. Eineinhalb Stunden: Eine schier endlos lange Zeit, in der Verletzte nicht hätten gerettet werden können.
Michael Stöcklin, Freiwillige Feuerwehr Müllheim
„Für diesen Einsatzfall hat es schon halt einfach zu lange gedauert, diese Erdungen durchzuführen!"
Schwere Vorwürfe gegen die Deutsche Bahn. Wir fragen nach, wie es dazu kommen konnte. Doch die Deutsche Bahn will sich gegenüber KONTRASTE nicht äußern - mit dem Hinweis auf laufende Ermittlungen.
Stunden später: endlich Gewissheit, dass unter den Waggons keine Verletzten liegen. Doch das Gefahrgut ist immer noch nicht identifiziert. Üblicherweise haben Gefahrgut-Container und Kesselwagen gut sichtbare Warnschilder, auf denen mit Schlüsselnummern Art und Gefährlichkeit der Stoffe vermerkt sind. Doch hier sind die Waggons umgekippt, liegen auf den Tafeln oder die Tafeln sind abgerissen.
Der Frachtbrief mit einer Liste der Ladung liegt in der Lok, der Lokführer kann nicht sagen wo, er steht unter Schock. Die Deutsche Bahn ist nicht in der Lage, umgehend eine Kopie des Frachtbriefes zu beschaffen.
Erst viel später kommt von der Deutschen Bahn in Köln eine Kopie per Fax. Nun muss die durch zehnstellige Zahlenkolonnen verschlüsselte Ladung den einzelnen Wagen zugeordnet werden. Jede Minute zählt. Doch der sogenannte Gefahrgutberater der Deutschen Bahn, der das Fax entschlüsseln kann, kommt ebenfalls erst nach Stunden.
Michael Stöcklin, Freiwillige Feuerwehr Müllheim
„Der Gefahrgutberater, der ist zirka zwei Stunden später - genaue Uhrzeit kann ich nicht benennen -, ist er eingetroffen und der hat uns dann geholfen bei der Identifikation der Stoffe, beziehungsweise in welcher Reihenfolge hier die Container gelagert sind. Und das war natürlich ein starker Zeitverzug, wo wir hier in dem ersten Moment natürlich auf uns allein gestellt waren."
Ein Unfall eines Gefahrgutzugs mit so vielen, völlig unterschiedlichen Chemikalien - ist der Albtraum jeder Feuerwehr.
Erst nach vielen Stunden der Unsicherheit kann festgestellt werden, dass die meisten Substanzen weniger gefährlich sind. Ein umgekippter Wagen ist allerdings mit hochgiftigem Ferrosilizium beladen. Zum Glück hat die Abdeckplane gehalten. Wäre es ausgetreten und hätte es geregnet, wäre eine giftige, hoch explosive Mischung entstanden.
Wiederum fragen wir die Deutsche Bahn: Wie kann es sein, dass es Stunden dauert, bis die Ladung eines Zuges zweifelsfrei festgestellt werden kann? Wir erhalten keine Antwort.
Erst nach fünf Stunden besteht endgültige Klarheit und die Evakuierung kann aufgehoben werden. Doch dann dauert es noch Tage, bis die Unfallstelle geräumt ist. Den Bürgern von Müllheim ist klar, dass sie nur mit viel Glück einer Katastrophe entgangen sind.
Brigitte Kleeb, Anwohnerin
„Also, das ist schon so, dass man da auch ein bisschen Panik innerlich kriegt und weil man einfach nicht weiß, was kommt, nicht."
Die Gefahr - sie wächst weiter. Jetzt will die Bahn die Rheintaltrasse, an der Müllheim liegt, sogar noch ausbauen. Zwei weitere Gleise kommen hinzu. Die Zahl der Güterzüge wird sich verdoppeln und damit auch die Gefahr von Unfällen - mit unabsehbaren Folgen.
Autor: Detlef Schwarzer
Dieser Text gibt den Sachstand vom 23.06.2011 wieder. Neuere Entwicklungen sind in diesem Beitrag nicht berücksichtigt.
Quelle:
rbb mit Video
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